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Wortgewaltig

Es ist die Stadt der Massaker, der öffentli¬chen Hinrichtungen, der Meningitis— und Aidsepidemi¬en«, sagt die junge Özgür über Rio de Janeiro. Sie hat ihr Stu¬dium in Istanbul abgebrochen, um in der Fremde sich selbst zu finden. In Rios Künstler¬viertel Santa Teresa kommt sie in einem Raum unter, »so schmal und lang wie ein Trog«. Sie gibt Englischunter¬richt, scheitert aber an der fehlenden Zahlungsmoral ih¬rer Arbeitgeber. So driftet sie ab in ein Vagabundendasein, aus dem sie nicht mehr her¬ausfindet. Ihre moralischen Wertvorstellungen fallen wie ein Kartenhaus zusammen. Angesichts grausamster Armut und der täglichen Kriminalität wird sie auch bereit zur Ge¬walt und sucht sich zugleich auf ihre Religiosität zu besin¬nen. Özgür ist sich der stetigen Selbstzerstörung schon be— wusst, kann die Stadt indes nicht eher verlassen, bis sie diese wirklich verstanden hat — und somit auch sich selbst.
Da entschließt sie sich, einen Roman zu schreiben: Obwohl sie spürt, dass Rio zu erfassen »dem Versuch gleichkäme, in einem Regenwald voller gifti¬ger Sträucher, Krokodile und Anakondas den Spuren eines äußerst raffinierten Raubvo¬gels folgen zu wollen.« »Die Stadt der roten Pelerine« war geboren und somit der »Ro¬man im Roman«. Man liest zu¬nächst zwei nebeneinander¬stehende Geschichten, zwi¬schen denen die Grenzen im¬mer fließender werden. Fikti¬on und Realität — Traum und Wirklichkeit — entwickeln sich zu zwei sich ergänzenden Er—zählsträngen. Wenn in der Rahmenhandlung Özgür die
Hauptfigur ist, so transfor¬miert die Protagonistin Ö. in »Die Stadt der roten Pelerine« die Erlebnisse von Özgür lite¬rarisch zu einer Art Reisebe¬richt. Leben und Tod, Liebe und Zerstörung, die Leiden¬schaft des Tanzens in afro— brasilianischen Rhythmen, die Weiblichkeit der brasiliani¬schen Mulattinen oder theore¬tische Überlegungen über das Verfassen eines Romans wer¬den von Ö. reflektiert.
Der 1967 in Istanbul gebo¬renen Ash Erdogan gelingt es mit ihrem Werk, das erstmals 1998 in der Türkei erschien, brasilianisches Großstadtmi¬lieu einzufangen, welches sie gnadenlos aus der Perspektive einer sensiblen jungen Frau beschreibt. Hervorzuheben ist das überwältigende sprachli¬che Geschick der Informatike¬rin und Physikerin, Dinge in einer wortgewaltigen Sprache zu beschreiben, was sie zwei¬fellos als talentierte Erzählerin auszeichnet.

13.3.2008
GERMANY
Ute Evers


 

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