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Am Anfang war nur ein Bild in meinem Kopf

Mit „Die Stadt der roten Pelerine“ liegt ein ungewöhnlicher moderner türkischer Roman vor. Grund genug für einige Fragen an Asli Erdogan. Von Tobias Hierl

Auf den ersten Blick mag es seltsam klingen, dass ein moderner türkischer Roman in Brasilien, konkret in Rio, spielt. Doch warum soll nur die türkische Vergangenheit oder Gegenwart zum Thema werden? Das wäre doch nur ein Klischee. Asli Erdogan lebte selbst einige Jahre in Rio und schildert den Versuch einer jungen Frau neue Lebenswirklichkeiten kennen zu lernen, doch statt Lebensfreude am Zuckerhut erlebt sie die Einsamkeit und Verlorenheit in den Favelas. Der Roman ist fordernd. Er kann man mit verwirrend, faszinierend schönen und auch grausamen Bildern aufwarten. Wenn sich Özgür durch die Straßen dieser Stadt treiben lässt, sie den Verfall und die Zügellosigkeit sieht und erfährt und im Kontrast dazu ihr eigenes Leben stellt, das auch immer mehr aus den Fugen gerät. Sie wollte beobachten, neue Erfahrungen machen, aussteigen, vielleicht einen Roman beenden. Das Leben in Rio nimmt sie aber immer mehr gefangen, verlangt einen hohen Einsatz. Sie bleibt aber dabei immer die „Gringa“, die Ausländerin. Sie hat schließlich nicht mehr den Status der Beobachterin, sondern findet sich ganz unten auf der sozialen Leiter und wird zum sinnlosen Opfer. Neben einer spannenden Erzählung kann der Roman auch mit einer komplexen Struktur aufwarten. Er arbeitet mit verschiedenen Ebenen. Özgür schreibt nämlich auch einen Text über eine „Ö“, deren Erlebnisse wiederum in den Romantext einfließen. Durch dieses Vexierspiel, des Text im Text, ergeben sich reizvolle Konstellationen. Auch die Namen haben eine weitere Bedeutungsebene. Während des Schreibens ist Erdogan auf den Orpheus—Mythos gestoßen und hat dann den Namen Özgür gefunden. Das bedeutet im Türkischen frei oder unabhängig. Die Frau in Özgürs Text trägt den Namen Ö. Das steht für Tod, für die Andere, für Eurydike und für Subjekt. Im Türkischen besteht die Möglichkeit alle diese Themen mit einem Buchstaben anzusprechen.

Buchkultur: Warum schrieben Sie über Rio? Hat das biographische Gründe oder ist Rio als eine Metapher zu sehen?
Erdogan: Ich lebte zwei Jahre in Rio, schrieb den Roman aber erst zwei Jahre später, als ich schwer krank war. Tatsächlich ist es ein Roman über meine Erfahrung mit Rio und meiner Krankheit. Von Rio wird auf zwei Ebenen erzählt, einerseits über das wirkliche Rio, andererseits ist es eindeutig eine Metapher. Im Verlauf der Geschichte vermischen sich diese beiden Ebenen. Was die Protagonistin Özgür in Rio sieht ist einerseits Realität und andererseits die Reflexion darauf.

Buchkultur: Sei verwenden eine sehr komplexe Struktur in ihrem Roman, gewissermaßen auch eine Erzählung in der Erzählung?
Erdogan: Die Struktur ist durch den Inhalt des Buches entstanden. Am Anfang war nur ein Bild in meinem Kopf, das Bild einer Frau, die an einem Sonntag durch einen Kopfschuss getötet wird. Hätte ich dieses Buch noch einmal geschrieben, hätte ich die Merkmale des Erzählens, diese strukturellen Unterschiede viel deutlicher herausgearbeitet. Wenn man von der Struktur ausgeht, kann man sagen, die Struktur hat sich selber erschaffen, obwohl es aussieht, als ob es wunderbar konstruiert wäre.

Buchkultur: Wie wichtig ist die autobiographische Komponente?
Erdogan: Özgür hat nicht angefangen zu Schreiben, um einen Roman zu verfassen, sondern um ihre eigene Wahrheit zu schreiben. Das ist ein Schnittpunkt zu mir. Ich wollte eine Geschichte erzählen, daraus musste nicht unbedingt ein Roman entstehen. Ich wollte über mich selbst schreiben. Aber da stellt sich die Frage, ob und wie eine autobiographische Realität möglich ist. Man kann über sich selbst schreiben, doch was ist der Preis dafür, wenn man so etwas tut? Was ist die Beziehung von diesem Schreiben über sich selbst und dem Schicksal und dem Tod. Warum schreibt man überhaupt über sich selbst, warum konstruiert man dieses Selbst? Es ist eine paradoxe Situation, denn in dem man sich darstellt, seiend macht, vernichtet einen das Leben.

Buchkultur: Sind diese autobiographischen Komponenten wichtig für Ihr Schreiben, denn irgendwie schreibt man ja immer über sich?
Erdogan: Was mich beschäftigt ist nicht als Thema mein Leben. Mich beschäftigt die Geschichte des Erzählens über sich selbst. Warum verspürt ein Mensch die Notwendigkeit über sich selbst zu erzählen und warum hat man so große Angst davor? Es gibt einen Spruch dazu, der mir gefällt, um über einen Menschen zu erzählen, müsste man eigentlich über die ganze Welt erzählen. Und wenn dieser Mensch ich selbst bin, wird es noch einmal komplexer. Denn wenn man sich erzählend selbst findet, verliert man sich selbst wieder. Ich glaube das Bewusstsein der Sterblichkeit ist erst der Moment wo das Bedürfnis zu erzählen entsteht.

Buchkultur: Sie sind Naturwissenschaftlerin und jetzt Autorin, eine ungewöhnliche Kombination.
Erdogan: Ich weiß nicht ob ich als Wissenschaftlerin bezeichnet werden kann. Ich habe zwar als Physikerin gearbeitet, doch die Klischees, die über Wissenschaftler im Umlauf sind, gelten für mich nicht. Ich war immer eine sehr gute Leserin und habe fast wie besessen gelesen. Meist Literatur, auch Philosophie. Merkwürdig daran ist, dass ein Mensch, der so gerne liest, nicht einmal einen Tag daran gedacht hat, selber Schriftstellerin zu werden. Als mein erstes Buch erschien, war ich noch Physikerin.

Buchkultur: Wer liest dieses Buch in der Türkei?
Erdogan: Meine Leserschaft ist ziemlich seltsam. Zuerst waren es hauptsächlich Intellektuelle, meist Literaten. Nachdem jedoch mehr Bücher von mir übersetzt werden und ich in Frankreich vom Magazin „Lire“ zu den 50 Autorinnen der Zukunft gewählt wurde, habe ich die Unterstützung der Literaten verloren. Dann, Romane werden in der Türkei meist von Frauen gelesen, bei mir überwiegen die Männer. Und ich habe auch eine sehr politische Leserschaft. Vor allem in den Gefängnissen werde ich viel gelesen. Das habe ich aber nicht meinen Romanen zu verdanken, sondern meinen politischen Kolumnen. Dann sind sie auf meine Bücher aufmerksam geworden. Aber ich wurde für meine Bücher auch von politischen Linken scharf kritisiert. Sie sagen ich sei eine Autorin, die in ihren Kolumnen eine Linke ist, aber in ihren Romanen eine Rechte.

Buchkultur: Sie schreiben also nicht nur für Intellektuelle?
Erdogan: Es gibt verschiedene Möglichkeiten meine Bücher zu lesen. Man auch nichts vom Orpheus—Mythos wissen, um dieses Buch zu lesen. Ich habe es nie gemocht die Intellektuelle zu spielen. Der Mythos ist zwar eine tragende Säule des Buches, doch das darf man eigentlich gar nicht sehen. Ich möchte, dass das unsichtbar bleibt, wie auch alle strukturellen Spielereien, die ich eingebaut habe. Ich bin nämlich alles andere als eine avantgardistische Schriftstellerin. Eine Hürde gibt es aber: Ich habe kein Mitleid, weder mit mir selbst, noch mit dem Leser und deswegen ist es emotional schwierig meine Bücher zu lesen, nicht intellektuell.

Kasten:
Asli Erdogan, geboren 1967 in Istanbul, studierte Informatik und Physik und arbeitete am Kernforschungszentrum CERN in Genf. Später ging sie für einige Jahre nach Rio de Janeiro und lebt heute wieder in Istanbul. 1994 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. 1996 „Der wundersame Mandarin“ (erscheint im Herbst auf Deutsch im Verlag Galata) und seither arbeitet sie als freie Schriftstellerin. Neben ihrer Vortragstätigkeit schreibt sie auch politisch engagierte Kolumnen und Artikel.

Asli Erdogan
Die Stadt mit der roten Pelerine
Übers. v. A. Gillitz—Acar, A. Hoch
sverlag 2008, 203 S.
EurD/EurA/sFr

1.8.2008
AUSTRIA
Tobias Hierl— Buchkultur Magazine


 

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