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  „Die Stadt mit dcr roten Pelerine“ / / 1.1.2016
  Eine Turkin m Rio

Von Ruth Kluger 11. October 2008, 03:33 Uhr

Asli Erdogan erzahlt den Untergang einer Frau in der Die ”Stadt mit der roten Pelerine” ist Rio de Janeiro, gesehen durch die Augen einer jungen Turkin, die dort seit zwei Jahren einen Roman zu schreiben versucht. Die Stadt ist ein pulsierendes Wesen im blutfarbenen Mantel, und gleichzeitig ist sie ein Reich der Verdammnis und des Todes. Der Aufenthalt an einem solchen Ort wird zur taglichen Holienfahrt, ein Abstieg in die Unterwelt. Ganz folgerecht ist der Mythos von Orpheus allgegenwbrtig und wird in haufigen Hinweisen, besonders in Zitaten von ”Orfeu Negro”, dem beruhmten franzosisch—brasilianischen Film von 1959, heraufbeschworen. Die Erzahlerin selbst, die wohl einiges mit der Autorin Asii Erdogan gemeinsam hat, ist ein weiblicher Orpheus, sehr weiBhautig, was in dem Roman eine Rolle spielt, da sie von den dunkleren Menschen um sie her absticht. Warum und wieso sie in dieser Stadt gelandet ist, erfahren wie nicht, und warum sie sich nicht von ihr losreiBen kann, weiB sie selbst nicht. Doch nach und nach verfallen auch wir als Leser der Attraktion einer Mischung aus Lust und Todessehnsucht, der das Wesentliche von Rio vereinigt.

Auszuge aus einem Roman, an dem die Erzahlerin arbeitet, wechseln mit ihren eigenen Erlebnissen ab, doch flieBen ErzShltes und Erlebtes so sehr ineinander, dass man die beiden Ebenen oft nur vom Druckbild her unterscheiden kann. (Der fiktionale Roman ist kursiv gedruckt!) Das ist naturlich volie Absicht und wird auch unumwunden als solche erkiart. Die Erzahlerin heifit Ozgur, was so viei wie die Freie Oder die Unabhangige bedeutet, ihre Romanheldin wird mit dem Anfangsbuchstaben 0 bezeichnet, daher ein Ego. Das erinnert an Kafka und seine diversen Ks. 0, so schreibt OzgQr, sei ”eine halb fiktive Ozgur”. Ozgur betont ihren Zweifel an der FShigkeit der Sprache, die Wirklichkeit wiederzugeben und reiht sich damit in postmoderne Uberlegungen ein, doch auf anschaulichere Art, als das bei Theoretikern der Fall zu sein pflegt: ”Leben und Schreiben stehen einander gegenuber wie zwei wetteifernde Bauchredner. Der eine versucht standig die Stimme des anderen zu ubertonen.”

Gieichzeitig lesen wir die scheinbar genaue Wiedergabe einer verrotteten Stadtlandschaft, bewundernswert packend in diversen realistischen Details. Dabei ist das Chaos eines Innenlebens immer mitgedacht und mitgeschrieben. In diesen Uberschneidungen von Innen und AuBen sowie den Schwankungen im Reaiitatsbegriff liegt der Reiz und die Originalitat dieses Buchs.

Ozgur hat in ihren zwei Jahren in Rio de Janeiro Portugiesisch geiernt, aber sie bleibt die Gringa, die Ausianderin aus dem Norden, die es in die Tropen verschlagen hat. Sie berichtet vom Zerfall ihres eigenen Korpers, von der Gbelkeit, der sie oft ausgesetzt ist, vom Hunger, den sie nicht stillen kann, weil sie sich so leicht Ubergibt, von der Nikotinsucht — sie ist Kettenraucherin —, von den Drogen, mit denen sie mit dem Leben fertig zu werden sucht und die sie nicht vertragt. Sie gibt sich mit Mannern ab, die sie kaum kennt Oder die sie

sitzen lassen; sie wird um den Gehalt ihrer Arbeit als Englischlehrerin geprellt, sie leidet unter dem Klima und einem geizigen Vermieter, der ihre Wohnung vernachlassigt und keine Klimaanlage installiert:. ”Sie ist standig hungrig, aber angewidert von Speisen, standig mude, aber fUrchtet Albtraume, standig durstend, aber weiR nicht, wonach.”

Die Rationalitat meldet sich gelegentlich, in der Form von Telefonanrufen ihrer Mutter aus Istanbul, die die Schdsse, die sie im Hintergrund hort, fur die Feuerwerke des beruhmten Karnevais von Rio halt. Die Mutter will wissen, warum die Tochter nicht endlich nach Hause zuruckkehrt. Darauf hat OzgUr keine Antwort Nur das Schreiben ihres Romans bewahrt sie vorm Wahnsinn, meint sie. Aber woruber will sie schreiben? Ihr Ziel: ”Die Stadt wie einen Schmetterling in ihren hohien Handen einzufangen und in Worte zu bannen. ohne sie zu toten”. Diese Stadt ist der Ort, wo Tod und Lust verschmelzen, der Ort von Orpheus und seiner Liebe.

Die beriihmte Touristenstadt mit ihren teuren Hotels und geleckten Stranden existiert fur Ozgur nur am Rande. Das Wesentliche sind die Favelas, jene eigenartigen Slums von Rio de Janeiro, die ihre eigene Kultur und Musik entwickelt haben, trotz Armut, Drogenabhangigkeit, Kriminalitat, Unterernahrung, und Gleichgultigkeit. Sie ist entsetzt von der Grausamkeit, die hier waltet und entzuckt vom Lebensdrang, vom Tanz, an dem sie teilnimmt, der Musik und den Festen der Favelas. ”Diese Musik, die dich an den Schultern packt und dich ins Land der Euphorie schiebt, ist das Einzige, was von Orfeu geblieben ist.” Trotz allem Horror, den sie empfindet, kann sich Ozgur dem Sog von Rio und seiner Gescheiterten nicht entziehen und verliebt sich in seine perverse Schonheit. Sie iernt den Karneval verstehen, gerade weil sie in seine bedrohliche Seite Einblick gewinnt. Ob diese Liebe sie das Leben kosten wird, steht am Ende weit offen in einer ultimativen Verschmelzung und Verschiebung von Erzahltem und Eriebtem. Nach der letzten Seite merkt man, wie gut Erdogan den Epigraph des Romans gewahlt hat, ein Zitat von Ceian: ”Du warst mein Tod:/ Dich konnte ich halten, / wahrend mir alies entfiel.” Was der Autorin nicht entfiel, ist ihre Fahigkeit einen abenteuerlichen Absturz darzustellen, wie ihn in der Belletristik sonst nur heruntergekommene Manner erleben, doch ohne die Genderrollen zu verwechseln. Es ist deutlich eine feminine Sensibilitat, die hier zu Worte kommt. Nicht nur Orpheus sondern auch Persephone, die Konigin und Gefangene im Hades sprechen uns aus diesen Seiten an.

Der Roman ist in der ”Turkischen Bibliothek” des verlags erschienen, nach der Originalausgabe von 1998. Die Schweizer prasentieren mit dieser Reihe Meilensteine der turkischen Literatur von 1900 bis in die unmitteibare Gegenwart.

Asli Erdogan: Die Stadt mit der roten Pelerine.

A. d.uTGrk. v. Angelika Giliitz—Acar und Angeiika Hoch. sverlag, Zurich. 204 S.,

Im Rausch der Stadt


In ihrem Alleinsein verliert sich dzgiir im Rausch der Stadt, und selbst wenn sie versucht, Beobachterin zu bleiben, lasst sie sich dennoch von dem Strudel aus Musik, Tanz und Delirium mitreissen. Sie schreibt einen Roman von der «Stadt mit der roten Pelerine», in dem ihr Ego, 6., die Hauptrolle einer unsicheren «Gringa», einer Fremden, spied, die versucht, sich in dem Gewirr von Phantasien und Phantastereien, von Masslosigkeit und Elend zurechtzufinden. Ozgur iost sich innerlich auf und klarmmert sich verzweifelt an ihre grune Kladde, in der sie O.s Erlebnisse in Rio notiert: «sie kaute auf ihrem Shift, der zu einer Verlangerung ihres Korpers geworden war und ihr wie eine Prothese als dritte Hand diente, und hing ihren Gedanken nach». Alles, was ihr auffallt, notiert sie und lasst es 6. erleben, die Schiessereien in den Faveias, den Elendsvierteln, wenn neue Kokainlieferungen eingetroffen sind, das Betteln und Sterben auf den Strassen. Die Grenzen zwischen dem, was ihrer Romanfigur, und dem, was ihr selbst zustosst, sind so fliessend, dass sich kaum mehr zwischen dem Romangeschehen und dem Roman im Roman unterscheiden lasst, wie Karin Schweissgut in ihrem aufschlussreichen Nachwort erlautert.

Ozgur beobachtet Zugeliosigkeit und Verfall auf den Strassen, in Tanzlokalen und Restaurants, sie sucht Liebe und Anerkennung und wird doch nur als Objekt begehrt, das Manner einen Augenblick lang reizt, Sie wird stehen—, schiimmer noch, fallengeiassen und verliert sich selbst, verfallt ihrer Angst urns Oberleben.

Geschildert wird dieses Psychogramm einer Fremden in der wirbelnden Metropole Rio de Janeiro in einer poetischen, bilderreichen Sprache, um deretwillen aliein schon die Lekture lohnt, auch wenn vieles an dem Roman Leser und Leserinnen zutiefst verstort. Verstorend wirken die Wahrnehmungen der Erzahlerin und die Beobachtungen an ihrem eigenen Ich, die klare Analyse des Verfalls der eigenen Person, der Verlust ihrer Geschichte und ihres Selbstbewusstseins. Es ist ein unaufhorlicher, nicht zu bremsender Abstieg, dem sie nicht mehr gegensteuern kann.

Sezierender Blick

Ais Naturwissenschafterin, die Informatik und Physik studiert hat, ist die 1967 in Istanbul geborene Autorin, Asli Erdoan, an Prazision gewohnt; und manches Mai kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie behandle die seelischen Vorgange ihrer Protagonistin mit den kalten, sezierenden Augen einer Analytikerin, die keine Gefuhle kennt. Als Bewohnerin Istanbuls ist sie — wie Ozgiir, ihre Romanheldin — Weltbilrgerin, eine junge Frau mit akademischem Hintergrund, die sich in kein traditionelles Moraikorsett mehr eingebunden fuhlt. Die Aufnahme ihres Romans in die 20—bandige Turkische Bibiiothek, die seit 2005 erscheint, ist besonders zu begrilssen, da hier — endlich einmal! — gezeigt wird, dass turkische Frauen mit der gleichen Selbstverstandlichkeit studieren, lesen, schreiben und in alle vier Weltgegenden reisen wie andere Frauen auch.

Asli Erdoan: Die Stadt mit der roten Pelerine. Aus dem Tiirkischen von Angelika Gillitz—Acar und Angelika Hoch. Nachwort von Karin Schweissgut. sverlag, Zurich 2008. 208 S.,

Ohne Geld in Rio
07.03.2008 | 18:22 | Von Barbara Frischmuth (Die Presse)

Was macht eine Tiirkin in Rio? Endlich ist sie frei — zugleich isoiiert. Sie verfallt der Stadt und verfallt in ihr. Beeindru— ckend: „Die Stadt mit der roten Pelerine” von Asii Erdogan.

Was macht eine Tochter aus gutem turkischem Haus, Informatikerin und Physikerin mit zweijahrigem Praktikum bei Cern in Genf, in Rio de Janeiro? Eine Stadt, die einerseits als die schonste der Welt gilt, andererseits von der Autorin als eine beschrieben wird, deren 600 Hugel von unzahligen Favelas in Beschlag genommen werden und in der Hunderttausende Obdachlose wie verrostete Nagel, die man weggeworfen hat, in den StraBen verrotten. „Es ist der Ort, wo naive, wohlmeinende und groGzugige Organisationen versuchen, ein ausgebeutetes, schlecht ernahrtes Volk — vor wem? — zu schiitzen, Rio zwinkert nur teuflisch mit den Augen und belachelt sie. Die Stadt weiB, dass sie schnell aufgeben und, nachdem sie sich ein, zwei Punkte auf ihrem Gewissenskonto gutgeschrieben haben, wieder zuruckkehren werden in ihre wie ein Uhrwerk funktionierende, Iangweilige, mit Freud und Leid geizende Erste Welt.”

Ist es das, was Ozgiir (ozgur heiBt so viel wie frei, unabhangig) in Rio festhalt, nachdem sie die Universitat, die sie gerufen hat, verlasst und versucht, sich als Programmiererin, Nachhilfelehrerin fur Englisch und Tanzerin durchzuschlagen? Die Langeweile an der mit Freud und Leid geizenden Ersten Welt, in der ihr eine groBe Karriere als Physikerin offengestanden ware? Oder doch die schmerzhafte Liebe zu einer Stadt, deren Geheimnis sie zuinnerst herausfordert?

Was die Daten angeht, gleicht Ozgiirs Biografie der ihrer Autorin, der 1967 in Istanbul geborenen Asli Erdogan, die Informatik und Physik ebenfails aufgegeben hat und nach einem zweijahrigen Brasilienaufenthalt wieder in Istanbul lebt. Auch Ozgiir schreibt an einem Roman, der als Roman im Roman kursiv gesetzt, parallel zur Geschichte von Ozgiir verlauft. Die Heldin ihres Romans heiBt 0. Ozgiir verfallt der Stadt und verfallt in ihr. Mit beeindruckender Hartnackigkeit stellt sie die gewonnene Freiheit auf die Probe: „Ich bin allein in diesen haibwilden Gegenden, bin alleine und habe dieses ganz neue GefOhl von Freiheit und Isolation. Es ist eine absolute, eine infernalische Freiheit, niemanden zu haben, der meine Bedurfnisse erahnt, ja nicht einmal einen Aufpasser zu haben. Ich kann irgendwelche Liigen in die Welt setzen, ich kann mir die Vergangenheit so zurcchtbiegen, wie sie mir passt, und ich kann den sundigsten Fantasien nachhangen.”

Je mehr Ozgiir versucht zur Kernschicht dieser Stadt vorzudringen, um irgendwie dazuzugehoren, desto mehr fiihlt sie sich zuruckgewiesen. Ihr Portugiesisch wird immer besser, aber man scheint sie immer weniger zu verstehen. Die Liebesabenteuer, auf die sie sich einlasst, enden jeweils mit dem Verlassenwerden. Sie bleibt die Gringa, die Fremde, auch wenn sie mittlerweile genauso mittellos ist wie die moisten Einheimischen. Sie hungert, bis sich ihr Magen in Krampfen windet, raucht eine Zigarette nach der andern, schnupft hin und wieder Kokain, das in den Favelas wie Brausepulver verkauft wird, leidet unter der Hitze, unter Nervenzusammenbruchen und Asthmaanfallen. Und ist dennoch nicht bereit, nach Istanbul zuriickzukehren. Das Telefongesprach mit der Mutter fugt sich in eine Reihe von Griinden fur die Ablehnung. Die Mutter, eine wohlhabende Geschiedene, die daran denkt liber Weihnachten mit Freunden nach St. Petersburg zu fahren und die Tochter einladt, sie zu begleiten, hat nicht die geringste Ahnung, was die Tochter umtreibt, wirft ihr nur vor, ihre Zeit zu vergeuden und

sich daruber zu beklagen, dass sie kein Geld hat.

Eine klaffende Wunde am Nacken

Ozgur klammert sich an ihren Roman, tragt das grune Heft, in das sie ihn schreibt, mit sich herum, urn auch in Lokalen daran arbeiten zu konnen. Das lasst sie immer unnahbarer erscheinen, auch wenn sie sich nach nichts mehr sehnt, ais angenommen zu werden. Sie stellt sich tapfer dem, was viele Menschen in Rio zu ubersehen gelernt haben. Die schlafende Mulattin am StraBenrand zum Beispiel. Ozgur bemerkt, dass sie tot, und wie die klaffende Wunde am Nacken beweist, auch noch ermordet worden ist. Sie begegnet einem auf dem Boden iiegenden Verhungernden, der zu crschopft ist, um sein Erbrochenes noch einmal hinunterzuschlingen und kann ihm nicht heifen. Es ist Weltmeisterschaft, der Kiosk ist geschlossen, sie selbst hat auch kein Geld mehr. Und sie weiB, dass fur den Verhungernden jede Hilfe zu spat kommt.

Als ihr in einer Bank irrtumlich ein Teil des Geldes eines neben ihr anstehenden Lehrlings ausgezahit wird, nimmt sie es und geht damit davon. „Eine Weile druckte sie sich in den StraBen herum wie ein entflohener Strafling. Dann sturzte sie in das erstbeste italienische Lokal und verschleuderte das ganze Geid fur ein einziges Abendessen. Es gibt doch Unverzichtbareres ais Tugenden: die Zitrone im Tee, die Sonntagszeitung oder italienischen Mozarella.” So steht es in O.s Roman, gieich darauf kommentlert Ozgiir: „Das war vielleicht das aufrichtigste Kapitei des Romans.” Ozgur hat in Rio die Freiheit gewahlt und ist in der Freiheit des Dschungels, der die Stadt noch immer umklammert halt, gelandet. Verarmt, vereinsamt, seeiisch und kdrperlich heruntergekommen, aber mit immer klarerem Blick auf die Not, die Verzweiflung, die Grausamkeit, aber auch die Lust, die sie umgibt und der sie sich nicht entziehen kann.

Noch in einem fruheren Stadium, als sie mit einer Universitatskollegin nachts durch die Bars zieht und erleben muss, wie Deborah, die sie fur den Inbegriff des Weiblichen halt, ihr — wie in einem LehrstOck Ober bewusst eingesetzte Verfuhrungskunst — den einzigen Mann, mit dem sie vielleicht eine nachhaltigere Beziehung hatte aufbauen konnen, nur so, zum Vergnugen, wegschnappt, wird ihr schlagartig klar, wie unbarmherzig die Geluste des Leibes sind, die nirgendwo sonst mit solcher Lassigkeit ausgelebt werden wie in dieser Stadt.

All die extremen Erfahrungen, die sie in Rio gesucht und auch gemacht hat, mochte Ozgur in Worte fassen, sie in einer pragnanten, kunstvollen Sprache festschreiben, aus der Bilder entstehen sollen, die das Festgeschriebene wiederum in Empfindbares auflosen. Doch kaum glaubt sie, mit ihrem Roman dem Tod ihren ganz personlichen Sieg abgerungen zu haben, fallt dieser Sieg blitzschnell in sich zusammen. „Der Moment, in dem sie in den Kern der Wahrheit eingedrungen war und die Unendlichkeit in ihren Handen gehalten hatte, war ihr schon langst wieder zwischen den Fingern zerronnen. Das Leben hatte sich erneut in seinen Schleier gehuilt, der aus verschiedenen Formen, Symboien und Begriffen gewoben ist.”

Ein beeindruckendes Buch, das in seiner Entdeckungsbeharrlichkeit an die groBen Forschungsreisenden fruherer Jahrhunderte gemahnt. ■

(”Die Presse”, Print—Ausgabe, 08.03.2008)

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Sex, Tanz und Tod oder Ozgiir in Rio

Asli Erdogans Roman „Die Stadt mit dcr roten Pelerine“


Rio de Janeiro, Stadt der weiBen Strande, Felsen, die das Land zerschneiden, Stadt des Dschungels, des Karnevals. Der zum Teil autobiographische Roman „Die Stadt der roten Pelerine” von Asli Erdogan ist eine Reise in das Unbekannte, ein Versuch, das Unbekannte zu erfassen und zu vermitteln. Dabei Iernt der Leser jedoch ein Rio kennen, welches sich hinter den Postkartenmotiven versteckt halt. Eine Stadt der Oberflachlichkeit, der Gewalt, des Chaos und der

Die junge tiirkischstammige Wissenschaftlerin Ozgiir lebt seit zwei Jahren in Rio. Der Leser begleitet sie nun an einem Sonntag im Dezember durch ihr Leben und die Stadt. Dabei lernt man Ozgiirs Lebenswandel als Abstieg kennen, so dass sie naeh zwei Jahren ohne Arbeit und Freunde ein sozial ganzlich zuriickgezogenes Leben fiihrt. Sie kennt die Stadt inzwischen recht gut, weiB iiber die brasilianische Kultur Bescheid. Sie durchschaut die Lebensfreude der Einheimischen als Maske, hinter der sich ein immerwahrender Existcnzkampf und absolute Sinnlosigkeit verbergen.

Die Grausamkeit in den Favelas, der Tod, der in Rio sein Paradies gefunden zu haben scheint und die geballte Sexualitat reizen Ozgiir jedoch ungemein. Abgeschreckt und angezogen zugleich begibt sie sich in einen Capoeira, einen Kampftanz mit der Stadt urn Leben und Tod.

Um der Brutalitat, der gefiihlsleeren Korperlichkeit um sie herum etwas entgegenzusetzen, scbreibt Ozgiir den Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine”. Dieser Roman wird in die Handlung eingeflochten. Mai Iiest Ozgiir einige Passagen daraus, mal schreibt sie ihn weiter. Als faszinierte, angewiderte, verangstigte und kampflustige Beobachterin erlebt man die Protagonistin, die den Leser durch einen Tag der Stadt Rio de Janeiro fiihrt. Je tiefer sie dabei steigt, desto mehr verliert sich die introvertierte, kiihle junge Frau, welche ihren eigenen Korper kaum in seiner Weiblichkeit begreift. In dem chaotischen Leben der Extreme von Sex, Tanz und Tod lost sich Ozgiirs Personlichkcit zunehmend auf, ihre europaischen Prinzipien „wurden eines nach dem anderen angewandt, dann gnadenlos iiber den Haufen geworfen und schlieBlich missbraucht”. Sie fiihlt sich von der Stadt Rio wie eine Marionette beherrscht. Dabei entfernt sich Ozgiir so weit von ihrer Heimat, dass sie sich in ihrer Muttcrsprache kaum noch zu Hause fiihlt, die gemaBigten Klimazonen und das gemaBigte Leben dort als langweilig und zu kalt serviert empfindet.

,,—Die Stadt mit der roten Pelerine” ist ein Roman iiber das Schreiben, ein Schreiben, das versucht, der Realitat moglichst nah zu kommen und ihr doch ausweicht, sie zuweilen sogar vorwegnimmt.

Dabei flieBen fast schreibtheoretische Uberlegungen in den Text ein. Doch noch viele weitere Bilder werden von der Autorin heraufbesehworen. Religionen und Tanz, rauschhaftes Gliick und vor Hunger leere Augen, der geringe Wert eines menschlichen Korpers und der holie Preis fiir die Einsamkeit treffen unaufhorlich aufeinander, ohne dass sich ein Sinn erkennen lieBe. Die gewaltigen Themen werden wieder negiert, so dass der Leser selbst vor jenem Nichts steht, welches Ozgiir hinter jeder Maske spiirt. Dabei findet Erdogan eine Sprache, die ebenso him und hergeworfen ist wie das Leben. Mal auBerst poetisch, mal sachlich kiihl, aber immer mit sehr treffenden Bildern schaffl sie es, die Leser aus den gemaBigten Breiten mitzunehmen in die Hollen Rios.

Erdogan reillt den Menschen mit ihrem Buch die Masken herunter. Doch so wie Ozgiir muss schliefllich auch der Leser die Leere hinter der Maske selbst fallen. Der Roman ist eine Reise an die Abgriinde der Menschheit, bei der selbst die tiefsten Hollenschlunde den Lebenstrieb bestarken, wahrend sie den Tod zur Schau stellen. Wenn Ozgiir aus Shakespeares MacBeth zitierend erkennt: „Das Leben ... ein Marchen ist’s, erzahlt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, das niehts, gar nichts bedeutet”, spiegelt sich der aufierst beriihrende Roman in diesen Worten wieder.

Von Wiebke Volkmann

Liter aturangaben:

ERDOGAN ASLI: Die Stadt mit der roten Pelerine. sverlag, Zurich 2008 208 S.,

• sverlag Zurich

Die Berliner Literaturkritik. Alle Rechte vorbehalten. Realisierung:Systola

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Das Neue Kultbuch Über Rio

In dem Roman Die Stadt mit der roten Pelerine vermittelt Asli Erdogan eindringlich die be— ruchtigte Oberflachlichkeit Rio de Janeiros, an dor so mancher Auslander Schiffbruch erlitten hat beim Versuch, in der Hochglanzmetropoie emotionalen Halt zu finden. In der 29—jahrigon Protagonistin Ozgur werden sich all diejenigen Leser und vor allem Loserinnen wiederfinden, die es selber einst gewagt haben, „nur mit ei— nem Koffer in der Hand” nach Rio de Janeiro zu gehen, und wie Ozgur am „schonsten Ort der Welt” gescheitert sind.

Schon bald empfindet Ozgur fur die unzahligen Einladungen zu einem Glas Bier (chopinho) nur noch Brechreiz, donn Rio, ist ihre bittere Erfah— rung, funktioniert unverbindlich. So taucht die Person, mit der sie sich noch vor einer Stunde telefonisch verabredet hatte, die ganze Nacht nicht auf und die unabhangige Ozgur wird zu— nehmond einsam, hat einen schlecht bezahlten Job und verdost die Zeit kettenrauchend in ihrer schabigen Wohnung, in der sie mehrmals einon Nervenzusammenbruch erleidet.

Einen wirklichen Plot hat der Roman mit dem an— archisch—freien Vagabundon—Feeiing nicht. Warum auch? Die lethargische Tropenhitze macht Aktivi— taten fast unmoglich. Ozgur trinkt in Spelunken, schlurft mit kaputten Schuhen ins Bohemevier— tel Santa Teresa und wird Opfer eines llberfalls. „Dann legte sie sich auf die Couch. Ozgur [...J starrte die Wand an, dabei schaffte sie es, an nichts, rein gar nichts von Bedeutung zu denken.” Um sich nicht ganz zu verlieren, schreibt sie in atemlos—schnellem Stil das Buch Die Stadt mit der roten Pelerine. Der eigentlichc Romar exis— tiert also auf einer zweiten Erzahlebene, kursiv in den FlieStext eingeschoben. Es sind die Erleb— nisse, die Ozgur um ihre Ego—Protagonistin „0.” konstruiert und in ein grimes Heft kritzelt. Der Roman ist eine Abrochnung mit dem Gewalt— moloch Rio, das ein „leichtes, schneil vorgang— lichos” Leben bietet „und an jeder Ecke einlen]

Tod’.’ Vehement kiagt Ozgur die Gleichgultigkeit an, mit der die Cariocas, wie die Einwohner Rios bezeichnet werdon, Obdachlose mitten auf der StralSe siechen iassen. Am Ende stirbt ihr zweites Ich 6. durch eine verirrte Kugel auf Rios StrafScn. Die autobiografische Verknupfung zwischen Ozgur/6. und Asli Erdogan (geboren 1967 in Istanbul) ist unverkennbar. Exemplarisch steht Erdogan fur eine neue Generation unabhangiger turkischer Frauen, so Karin SchwoiSgut Im Nach— wort. Erdogan promovierte Mitte der 1990er Jah— re als Physikerin an der Katholischen Universitat Rios. Die Stadt mit der roten Pelerine entstand 1998 und ist der erste turkische Roman, der in Lateinamerika spielt. Angeblich machte die Auto— rin sich vor Ort keine Notizen, sondern schrieb das Buch spater aus der Distanz. Am Ende gibt es fur die Protagonistin „nichts mehr, was sie der Welt noch hatte sagen wollen” Und doch hat sie die Leserlnnen langst in ihren Bann gezogen. Verstimmen wird den Brasilienkenner lediglicb die mitunter recht klischeehafte Charakterisie— rung Brasiliens als ..neuerWelt” und „halbwilden Dschungel” Auch die Typisierung der Afrobrasi— lianer als „von den blutigen Spuren der Sklave— rei” gekcnnzeichnete Tanzer mit „afrikanischem Eros” zeugen von wenig intimen Kenntnissen dieser Gesellschaft. Freuen wird die Leserlnnen hingegen, dass Die Stadt mit der roten Pelerine zehn Jahre nach inrem Erscheinen endlich auf Deutsch vorliegt. Denn der Roman hat das Potential, zum Kultbuch zu avancieren. Fur alle Bohemians und Rebellen, fur alio Studierenden und Junggebliebenen, die in Rio geliobt und gelitten haben und bei Erdogan das ausgedruckt finden, was sie erlebt haben, namlich die intensivste Zeit ihres Lebens.

// Saskia Vogel

Ash Erdogan // Die Stadt mit der roten Pelerine // Aus dem Turkischen von Angelika Gillitz—Acar und Angelika Hoch// llnionsverlag //Zurich 2008//218 Seitcn//

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Der Tod maskiert sich unterm Zuckerhut


Die turkische Schriftstellerin Asli Erdogan sieht Rio als ”Stadt mit der roten Pelerine’

Im Ruckblick hat mancher Zufall etwas Schicksalhaftes. 1994 musste die Schriftstellerin Asli Erdogan ihre Geburtsstadt Istanbul aus politischen Grunden verlassen. Das einzige Land, in dem die Tlirkin schnell genug Aufnahme fand, war Brasilien. So landete sie in Rio de Janeiro. Dort also, nicht im inspirierenden Istanbul, spielt ihr Roman ”Die Stadt mit der roten Pelerine”. Der Titel klingt verheiBungsvoll exotisch.

Doch wie zur Wamung blitzen auf dem Umschlag dieses neuen Bands der Turkischen Bibliothek Dolche zwischen Klatschmohnbluten auf. Es geht weniger urns pralle Leben als um den nackten Tod, weniger urn Hingabe als um Verzweiflung, weniger um Lust als um Leid.

Asli Erdogan hat ein diisteres, zugleich bedruckend schones Buch geschrieben. Ihre sorgfaltig konstruierte Geschichte erzahlt von einer sich selbst entfremdeten, verarmten Vagabundin, die sich ins Schreiben rettet, um die Isolation in der Millionenstadt zu bestehen. Die Migrantin Ozgiir, deren Vorname im Turkischen so viel heiSt wie frei, irrt ziellos durch Rio. Sie weiR nicht, dass es der letzte Tag in ihrem Leben sein wird. Aber der Leser ahnt es alsbald. Die Autorin schickt ihn mit hinein in das Chaos dieser von Armut belagerten Stadt, und sie, die alle Faden in der Hand halt, sieht klihl zu, wie er vom Sog der Geschichte verschlungen wird.

Dabei erzahlt Asli Erdogan von so vielem zugleich. Sie schildert das Leben der Favelas, sie zerpfllickt die Klischeebilder vom karnevalesken Alltag unterm Zuckerhut, sie philosophiert liber das Wesen der Mulattin, des Candombetanzes und des brasilianischen Korperkults. Immer wieder spurt man, dass sich die politische engagierte Autorin nicht mit menschenverachtenden Zustanden abfinden kann, mit einer Gesellschaft beispielsweise, in der die Reichen die Armen verachten, ”dieses GeschmeiS, das ihnen die Aussicht verdirbt, die schone Stadt zu einer Freiluftkloake, zum Krankenhaus und Konzentrationslager macht”. Ein Menschenleben ist in einem solchen Umfeld nicht viel wert.

Die Anklage hiillt sich freilich immer ins Gewand der Literatur. Nicht nur die Autorin schreibt — liber Ozgiir. Auch Ozgiir schreibt — liber ihre Protagonistin namens O. namlich. Beide, Asli Erdogan und ihre Heldin Ozgiir, lassen den Leser den Entstehungsprozess schopferischen Schreibens erleben, das sich verdichtet und erganzt, das am Ende, im Tode, Realitat und Fiktion auf bizarre Weise verschmilzt. Muss Ozgiir sterben, weil O. sterben wird? Oder stirbt O., weil Ozgiir gestorben ist? Und kommt Asli Erdogan so mit dem Leben davon?

Auch die Schriftstellerin, die nach ihrem Abschluss am einer englischsprachigen Schule zunachst Physik studierte und dann am Genfer Kernforschungszentrum CERN gearbeitet hat,.hatzu schreiben begonnen, um zu liberleben, zunachst in Genf. Der Rio—Roman ist das erste Buch der 41—jahrigen Autorin, das auf Deutsch vorliegt. Die Obersetzung vermittelt Asli Erdogans nuancenreiche Sprache, ihr ausgepragtes Talent, Gefiihle zu beschreiben, und auch ihre kraftvoll—schonen, unverbrauchten Bilder — die Sonne geht unter, wie so oft in Rio, aber hier ist es ein schwarzer Samthandschuh, der den leuchtenden Rubin am Horizont ganz langsam bedeckt. Manche turkische Feinheiten jedoch lassen sich nicht wiedergeben Oder sie vermitteln sich dem deutschen Leser nicht unbedingt. Ozgiir, lange Zeit ein Mannervorname, nennen turkische Mutter seit den siebziger Jahren auch ihre Tochter.

In der turkischen Fassung rnusse man eine Weile lesen, bis sich das Ratsel der Doppelgeschlechtlichkeit lose, erlautert Asli Erdogan. Und 0. stehe fur ”dlum” (Tod), fur ”oteki” (der andere) und fur die turkische Schreibweise von Eurydike — mit O.

Naturlich wird eine Frau, die uber Frauen schreibt, zumal wenn sie Turkin ist, mit der Frauenfrage konfrontiert. In diese Schublade lasst sich Erdogan, deren Botschaften etwas kompromisslos Universales haben, nicht einsortieren. Leben und Sterben ist kein Frauenthema an sich. Und die Mutter, zu der Ozgur eine komplizierte Beziehung hat, lebt zu weit weg fur eine Auseinandersetzung unter Frauen, in der ”nordlichen Hemisphare”, in Istanbul namlich. Was wie nebenbei zeigt, dass jede Betrachtung eine Frage des Standpunkts ist. Dies gilt gerade auch in Zeiten von Globalisierung und Migration. Das und vieles mehr erfahren deutsche Leser in der brasilianischen Gesqhichte einer turkischen Autorin.

[] Asli Erdogan: Die Stadt mit der roten Pelerine. Gbersetzt von Angelika Gillitz—Acar und Angelika Hoch. sverlag, Zurich. 203 Seiten, 19,90 Euro. Die Autorin ist morgen um 19.30 Uhr im Wilhelmspalais zu Gast.

Von Sibylle Thelen

Autor,TiEl AsiLEsdogan D is Stadtm ±deriDtaa Pekhe

 


 

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